Newsletter Schweizer Buchhandel
Ausgabe 6/2022 vom 10. Februar 2022

9. Eine Frage an
9. Lucien Leitess zu Endo Anacondas nie geschriebenen Roman

Endo Anaconda, der letzte Woche gestorben ist, war so etwas wie der Bob Dylan der Schweiz: Seine Poesie fand hauptsächlich in Songs statt, und selbst mit nur wenigen eigenen Büchern im Gepäck war der Berner eine Schlüsselfigur in der Schweizer Literaturszene. Verleger Lucien Leitess vom Unionsverlag besuchte ihn 2021 mehrmals in seinem Bauernhaus im Emmental, um an der Neuausgabe der «Sofareisen» zu arbeiten. Er erinnert sich:

«Bei dieser Arbeit an mehreren Sommertagen sprudelten die Wörter, Sätze und Ideen nur so aus ihm heraus. Er war ja ein stupender Schreiber, einer der vitalsten, präzisesten und schärfsten unter den Prosaisten der Schweiz. In einem Satz konnte er drei Haken schlagen und einen drei Mal überraschen. Und welche Fallhöhe auf kleinstem Raum, auch wenn es um ihn selbst ging in dunklen Momenten: ‹Irgendwie gelang es mir trotzdem, den privaten Blues mit der globalen Tragödie in Einklang zu bringen und wenigstens ab und zu den Mülleimer hinunterzutragen.›

Dann rückte er plötzlich heraus mit seinem Romanprojekt eines Emmental-Westerns. In seiner Nähe gab es einen Pferdehof mit Hobby-Rodeo-Reitern. Die ziehen eines Sonntags los und tauchen unversehens ein in die Vergangenheit: ein Trupp von Outlaws, inmitten von unterjochten Bauern, gewalttätigen Vögten, rebellischen Mägden und Knechten. Die ziehen durchs Land, auf ihrer Spur brennen die Burgen und lodert die Freiheit … Er kannte alle Plätze, wo es seit dem Grossen Bauernkrieg 1653 solche Kämpfe gegeben hatte, und wollte sie zum Leben erwecken. In seinen Kladden wuchs das Projekt, zum Roman ist es nicht geworden. Zu schade! Die Energie, die er ausstrahlte, fehlt uns jetzt.»

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